Von Hype, Vernunft, der großen Unbekannten und einer steilen These.
Wer sie nicht kennt, die bunten Übersichten mit einer schier endlos wachsenden Anzahl von Legal Tech-Anbietern, mag gern die einschlägigen Suchmaschinen bemühen; die Suche nach „Legal Tech Landscape“ liefert eindrucksvolle Ergebnisse.
Was diese Übersichten jedoch nicht aufzeigen, ist die Entwicklung des Gesamtmarkts für Legal Tech.
Dabei sind zwei augenscheinlich gegensätzliche Entwicklungen zu beobachten:
1. Investitionen in Legal Tech-Anbieter nehmen unverändert zu.
2. Der Markt für Legal Tech-Lösungen ist in einer frühen Konsolidierungsphase.
Im Jahr 2018 erreichte das globale Investment in Legal Tech-Unternehmen erstmalig die $1bn Marke, davon entfielen allerdings allein $500m auf LegalZoom, bereitgestellt von den vier Lead Investoren Francisco Partners, GPI Capital, Permira und Bryant Stibel Investments.
Im Jahr 2019 zeigte sich ein unveränderter Trend mit einem Gesamtinvestment i.H.v. $1.229bn bereits Ende Q3/2019.
2020 verzeichnete trotz Corona nur leichte Rückgänge, allein im 4. Quartal 2020 erhielten die eDiscovery Plattform DISCO $100m, der Anbieter von Legal Spend Management Software Brightflag $28m und die Contract Management Platform Contractbook $9.4m externes Kapital.
Im Jahr 2021 haben allein im Bereich no-code/low-code die Anbieter Bryter $66m und tonkean $50m erhalten.
Die wachsende Bedeutung von Technologien für den Rechtsmarkt zeigt sich auch in den Prognosen für das Wachstum dieses Markts: Statista prognostiziert den Gesamtumsatz für 2025 auf $25bn. Und der Hunger scheint ungebremst: LegalZoom und Intapp sind beide seit Juni 2021 gelistet und haben erhebliche Summen erzielen können ($700m bzw. $253m)
Nur am Rande:
Für Private Equity Investoren scheint der Markt für Legal Tech ein sehr spannender zu sein, auch HG (Litera, Mitratech) und K1 Investment (Onit, Brainspace, Reveal) haben umfangreich investiert. Und nicht nur dort, denn auch ALSP (Alternative Legal Service Provider) stehen im Fokus einiger PE-Häuser. So hat Permira in Axiom und Kayne Partners in Elevate Services investiert. Integreon, einer der Pioniere, wurde erst im Juni 2021 von NewQuest Capital Partners an EagleTree Capital veräußert. Wachstum und Margen scheinen vielversprechend in einem ansonsten noch traditionell geprägten Markt.
Zurück zum Thema:
In den letzten 12-18 Monaten zeigte sich ein weiterer Trend, den der Autor bereits 2019 im Nachgang zum CLOC Institute aufgezeigt hat: Plattformen sind die Zukunft.
Dies lässt sich einerseits am veränderten Marketing vieler Anbieter ablesen, die ihre Produkte zunehmend als „Plattform“ vermarkten – nicht selten angereichert um „Legal Operations“ – und in den zunehmenden Konsolidierungstendenzen.
Dabei lassen sich drei strategische Motive erkennen:
1. Übernahme/Zusammenschluss von Mitbewerbern zur Verteidigung/Vergrößerung des Marktanteils.
a. Onit ->Simple Legal
b. Intapp -> OnePlace
c. Consilio + Xact Data Discovery
2. Übernahme von Anbietern komplementärer Produkte mit dem Ziel, durch cross-selling die Marktdurchdringung zu erhöhen.
a. Ironclad -> PactSafe
b. Intapp -> Repstor
3. Erwerb von Anbietern zum Aufbau einer end-to-end-Plattform als Reaktion auf eine langfristig sinkende Nachfrage nach „Point Solutions“.
a. Litera -> Objective Manager, Workshare, Foundation Software Group, Brainspace, Docscorp, Clocktimizer, Allegory, Bestpractix
b. Thomson Reuters -> HighQ
c. Mitratech -> CaseTrack, CMO Software, Viewabill, ContractRoom, AdvanceLaw, INSZoom, Acuity ELM, CPMG Risk Solutions
Diese Entwicklung ist keine Besonderheit des Rechtsmarkts, sondern in nahezu allen Branchen und IT-Segmenten zu finden: Mit einer steigenden Nachfrage nach IT (insbesondere in unreifen Märkten) steigt die Anzahl der Anbieter sprunghaft an. Das Feedback eines Teilnehmer zu einer Legal Tech Veranstaltung im Jahr 2019 verdeutlichte diese Entwicklung sehr anschaulich: „Es gibt gefühlt mehr Lösungen als Probleme...“.
Auf Abnehmerseite wird anfangs vieles ausprobiert, mal erfolgreich, mal nicht: „Dabei sein ist alles“ schien das Leitmotiv zu sein.
Mit zunehmender Erfahrung (auf beiden Seiten) und gepaart mit der Erkenntnis, dass Technologie zwar ein Befähiger, aber keinesfalls ein Allheilmittel zur Lösung aller Probleme ist, setzt Vernunft ein.
Die Entscheidung für den etwaigen Einsatz von Technologie folgt zurecht auf eine sorgfältige Problemdefinition und einer Optimierung und Standardisierung korrespondierender Prozesse.
Getrieben durch diese (und weitere) Erkenntnisse verändern sich Angebot und Nachfrage von, bzw. nach IT-Lösungen: fragmentierte Märkte tendieren zur Konsolidierung (siehe Beispiele oben). Manche Märkte, und der Rechtsmarkt gehört vermutlich dazu, sind schlichtweg zu klein für eine sehr große Anzahl im Kern austauschbarer Produkte.
Beispiel:
1965 zählt gemeinhin als das Ursprungsjahr der späteren ERP (Enterprise Ressource Planning) Systeme, damals noch unter der Bezeichnung MRP I (Material Resource Planning mit einem Fokus auf Materialbedarfsplanung).
1975 erfolgt die Erweiterung dieser Lösungen um die Planung und Steuerung von Mengen, Kapazitäten und Terminen (MRP II oder PPS – Produktionsplanungs- und Steuerungssysteme).
In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde der Leistungsumfang nochmals deutlich erweitert um die Planung und Steuerung sämtlicher unternehmensinterner Ressourcen, sowie in der Folge um eine funktions- und unternehmensübergreifende Planung und Steuerung betrieblicher Abläufe und Wertschöpfungsketten: Enterprise Resource Planning oder eben ERP.
Und in logischer Konsequenz haben sich Standards und Standardtools (u.a. SAP, Oracle) mit einem signifikanten Marktanteil entwickelt.
Analoge Entwicklungen gab es in den Bereichen CRM (Customer Relationship Management, z.B. Salesforce, SAP CRM, MS Dynamics) und Office-Tech (Microsoft, Google Workspace).
Um Missverständnisse zu vermeiden: die Anzahl der Anbieter in jedem der drei oben genannten Segmente ist heute um ein Vielfaches größer als vor 15-20 Jahren.
Die meisten dieser Unternehmen sind jedoch noch vergleichsweise jung und entstammen einer Zeit, als die potentiellen Nachteile der Konsolidierung spürbar wurden (mangelnde Innovationsbereitschaft und Flexibilität, geringerer Wettbewerb und geringere Auswahl, zunehmende Komplexität und Kosten, größere Abhängigkeit) oder neue Technologien (u.a. Cloud) agilen Start-ups neue Geschäftsmodelle ermöglichten.
In jedem Markt werden sich stets Mitstreiter behaupten, die ihre Lösungen exakt an den Bedürfnissen der Kunden ausrichten und einen messbaren Nutzen stiften. Leichter wird es gleichwohl nicht, denn weitgehend transparente Märkte ermöglichen Vergleichbarkeit, und relevante Entscheiderkreise (aus Business und IT!) sind heute besser informiert denn je.
Und noch etwas: IT ist kein Selbstzweck einer einzelnen Abteilung, sie wird auch und insbesondere getragen von den Experten, die sich mit den vielfältigen Aspekten von IT-Lösungen auskennen: Infrastrukturen, Applikationen, Entwicklungsparadigmen und Werkzeuge, Sicherheit, Integration in bestehende/zukünftige Systeme, Investitionssicherheit, Nutzung von Standards, Wartung/Pflege, überschneidungsfreie Funktionalitäten, Wirtschaftlichkeit, Anwenderorientierung, Kosten (einmalig und laufende Kosten) usw.
Dieses Verständnis ist in anderen Branchen (und Unternehmensbereichen) seit Jahrzehnten etabliert, ein Blick über den Tellerrand des Rechtsmarkts erscheint, retrospektiv und prospektiv, hilfreich und sinnvoll.
Und noch eine weitere Entwicklung zeichnet sich auf Anbieterseite ab. Während bis dato die weit überwiegende Anzahl an Lösungen von Anbietern außerhalb des Kernmarkts Erbringung von Rechtsdienstleistungen entwickelt wurde, sehen wir zunehmend Lösungen, die aus dem Markt, also von Anbietern und teils auch Abnehmern von Rechtsdienstleistungen, entwickelt werden.
Reynen Court, gegründet 2018 in Amsterdam, entwickelt gemeinsam mit den Investoren (u.a. Ventech, Latham & Watkins, Clifford Chance, Orrick, Nishimura & Asahi) eine „Single Platform for Legal Technology“.
CMS, Cooley und Rajah & Tann Asia entwickeln gleich „The world’s first open industry platform for lawyers”: Lupl. PWC hat ein JV mit dem deutschen Hoffnungsträger Aleph Alpha ein Joint Venture gegründet, das KI-Startup Xayn und CMS entwickeln Europas erstes souveränes juristisches KI-Sprachmodell und Legal Copilot. Diese Liste ist weitaus umfangreicher, als öffentlich bekannt.
Zurück auf Los: Es bleibt bunt im Markt für Legal Tech.
Jede(r) kennt es und wohl die Mehrheit nutzt mindestens eine Anwendung von: Microsoft.
Ob Word, PowerPoint oder Excel für Dateibearbeitung, Outlook zur Kommunikation oder Sharepoint oder OneDrive als Datenspeicher, Microsoft ist Teil der täglichen Arbeit, ob geschäftlich oder privat.
Mit dem pandemiebedingten Home-Office hat sich zudem eine weitere Anwendung fast explosionsartig etabliert: Teams, gekommen, um zu bleiben, ebenso wie Home-Office.
Innerhalb von vier Jahren hat sich die Zahl der aktiven Teams-Nutzer von 2 Millionen auf 145 Millionen weltweit erhöht.
Ein Vergleich zur Entwicklung relevanter Mitbewerber zeigt ferner den Wettbewerbsvorteil, den Microsoft als Anbieter einer breiten Produktpalette mit einer großen „eh-da“-Kundenbasis hat. Wer bereits Microsoft nutzt, wird im Zweifel auch weitere Anwendungen nutzen, zumal diese üblicherweise nahtlos in die existierende IT-Infrastruktur integriert sind.
Doch Teams ist mehr als eine reine Videoconferencing-Plattform: Microsoft hat auf der Ignite 2021, der jährlichen Fachkonferenz, deutlich gemacht: Teams wird zur zentralen Kommunikations- und Kollaborationsplattform ausgebaut, die mittel- bis langfristig viele weitere Microsoft Anwendungen integrieren wird.
Von besonderer Bedeutung in diesem Kontext ist die "Copilot Familie", bestehend aus
1. Copilot,
2. Copilot M365 und
3. Copilot Studio, mit dem in kürzester Zeit äußerst effektive Anwendungen erstellt werden können, die mit natürlicher Sprache genutzt werden können,
Nicht nur als Bindeglied zwischen verschiedenen M365-Anwendungen, sondern als "Low-Code-Plattform" eigenständig nutzbar ist die MS Power Platform; die Antwort von Microsoft auf den Megatrend Workflowautomatisierung und Robotic Process Automation (RPA):
1. Power Automate – für die Automatisierung von Arbeitsabläufen
2. Power Apps – für die Erstellung von Anwendungen ohne Programmierkenntnisse
3. Power BI – für die Erstellung ebenso umfangreicher wie detaillierter Reports
Es gibt viele weitere hilfreiche Anwendungen von Microsoft, nicht wenige davon sind in den Lizenzpaketen, die Unternehmen erwerben, bereits enthalten.
Und ebenso wichtig: Microsoft hat erkannt, dass sie die spezifischen Anforderungen des globalen Rechtsmarkts (insb. Datenschutz) schneller und besser in ihren Lösungen abbilden müssen.
Das Angebot an MS365-basierten Lösungen für Rechtsabteilungen und Kanzleien wächst langsam, aber stetig.
Repstor, ein Anbieter aus Belfast, der erst kürzlich von Intapp übernommen wurde, hat auf MS365 eine komplette end-to-end Lösung für Dokumenten- und Matter Management entwickelt, vollständig in Outlook und Teams integriert und auch bereits in Rechtsabteilungen in Deutschland im Einsatz.
Gleichzeitig „verbinden“ immer mehr Anbieter Outlook und Teams mit ihren Anwendungen, u.a. die Legal Spend und Matter Management Anbieter Brightflag und Simple Legal, die Practice Management Lösung Clio, die DMS-Anbieter iManage, NetDocuments und HighQ und viele mehr; ein frühes, gleichwohl auch deutliches Signal, dass sich Teams auch im Rechtsmarkt dauerhaft etablieren wird.
Egal welche Studie, die Antwort auf die Frage nach den Prioritäten von Rechtsabteilungen sind doch ähnlich, wenn auch gelegentlich in abweichender Reihenfolge:
1. Verbesserung des Contract Lifecycle Managements
2. Dokumentenautomatisierung und -management
3. Automatisierung von Prozessen
4. Reduzierung von Kosten
Jede dieser Prioritäten erfordert den Einsatz von Technologie, bis dato überwiegend von unterschiedlichen Anbietern mit all den bekannten Konsequenzen:
Alle genannten Punkte verstärken den Trend zu Plattformlösungen, ein zentrales Element der Microsoft Strategie. Mit einem Marktanteil von 80% in Deutschland bei Office Produkten ist die Präsenz beim Anwender zudem ein signifikanter Wettbewerbsvorteil.
Eine bereits beeindruckende und rasch wachsende Anzahl von Apps (Microsoft und 3rd Party) sowie eine Vielzahl von Konnektoren zu Drittanwendungen sind sicher nicht von Nachteil.
Warum ist das wichtig?
Technologie ist der maßgebliche Treiber für die Modernisierung von Rechtsabteilungen und Kanzleien.
Gartner erwartet auf Seiten der Rechtsabteilungen eine Verdreifachung der Investitionen in Legal Tech bis 2025. Aktuell umfassen diese ca. 3,9% des Gesamtbudgets, für 2025 wird ein Anstieg auf 12% prognostiziert.
Die Erkenntnisse aus der Pandemie, dass Remote Work ein durchaus tragfähiges Konzept darstellt, erfordert eine IT-Infrastruktur, die dieses Konzept auch langfristig ermöglicht.
Der Trend zu Plattformen, bestenfalls jene, die in den Unternehmen bereits etabliert und akzeptiert sind, wird die Konsolidierung weiter befeuern.
Wer aktuell oder in naher Zukunft vor der Entscheidung steht, die Arbeit in der Rechtsabteilung (oder Kanzlei) durch den Einsatz von IT zu optimieren, scheint gut beraten, die Entwicklung aus der Radarperspektive zu analysieren:
Welche Prozesse und Aktivitäten sollen durch den Leistungsumfang der IT-Lösung abgedeckt werden?
Das Thema ist komplex und erfordert die Zusammenarbeit vieler Experten, neben Vertreterinnen aus der Rechtsabteilung mehr denn je die Mitwirkung von Experten aus den Bereichen IT, Geschäftsprozess- und Projektmanagement.
Eine steile These
In 5 Jahren wird es global 5-10 Anbieter geben, die mit Ihrer jeweiligen Produktpalette, integriert auf einer Plattform, und mit Konnektoren zu wichtigen 2point Solutions", den Bedarf von Rechtsabteilungen und Kanzleien weitestgehend abdecken.
Eine dieser Plattformen wird Microsoft sein, auf der sich ein Ecosystem mit vielen verschiedenen Anbietern und deren Lösungen etablieren wird, stets mit Outlook, Copilot oder Teams als führendes Frontend und ausgestattet mit umfangreichen, abteilungsübergreifenden Kollaborationsmöglichkeiten.
Aber vielleicht liege ich auch (nicht ganz) falsch.
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